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Ausnahmezustand!

Nachricht von:
Christian Worch

Ausnahmezustand!

Artikel 5 des Grundgesetzes im angeblich freiheitlichsten Staat, den wir
je auf deutschem Boden hatten, regelt die Meinungsfreiheit. Diese kann
natürlich nicht grenzenlos sein. Die Kanzlerin beispielsweise als Ferkel
zu beschimpfen, würde die öffentliche Ordnung doch sehr stören. In
früheren Jahrhunderten wäre dergleichen Majestätsbeleidigung (crimen
laesae maiestis) gewesen, und der Schuldige hätte vielleicht sogar
aufgehängt oder einen Kopf kürzer gemacht werden können. Also nennt
Artikel 5 GG in seinem zweiten Absatz "Schranken". Genau lauten diese:

(Zitat Beginn)
Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen
Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem
Recht der persönlichen Ehre.
(Zitat Ende)

Daß Gesetze "allgemein" sein müssen, versteht sich eigentlich von
selbst. Es ist Ausfluß des Willkürverbots. Willkürlich wäre
beispielsweise ein Gesetz, das das Tragen grüner Haare verbietet. Es
würde sich nur gegen Punks richten, nicht aber gegen Skinheads.
Zumindest habe ich noch keinen Skinhead mit grünen Haaren gesehen,
sofern er überhaupt Haare auf dem Kopf hatte. Dbei ist es egal, ob es
der Mehrheit unserer Mitmenschen paßt, daß Leute grüne Haare tragen,
oder ob sie es scheußlich finden und darin eine optische Beleidigung
sehen. So ein Gesetz wäre willkürlich und daher mit der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.

Nun gibt es aber ein Sondergesetz. Dieses ist § 130 Abs. 4
Strafgesetzbuch. Er lautet:

(Zitat Beginn)
Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird
bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen
Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört,
dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft
billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.
(Zitat Ende)

Es ist ein Sondergesetz deshalb, weil damit nur die Würde der Opfer der
nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft geschützt werden,
nicht jedoch beispielsweise die Opfer des Kommunismus, die Opfer
kirchlich initiierter Hexenverbrennungen, die Opfer der Ausmordung der
amerikanischen Ureinwohner, die Opfer des Genozids an den Armeniern und
so weiter und so fort.

Tatsächlich ist dieses Gesetz eigentlich weniger zur Strafverfolgung
erlassen worden, sondern mit Blick auf das Versammlungsrecht.
Bezeichnend war beispielsweise, daß die Beratungen darüber im
INNENausschuß des Bundestages stattgefunden haben und nicht im
RECHTSausschuß. Bezeichnend war ebenso, daß zu den Sachverständigen, die
vom Ausschuß geladen wurden, der damalige Landrat von Wunsiedel im
Fichtelgebirge zählte, Dr. Peter Seißer. In Fachkreisen wurde daher §
130 Abs. 4 StGB auch "lex Wunsiedel" genannt oder "lex Rieger" nach dem
unlängst verstorbenen Rechtsanwalt Jürgen Rieger, der über viele Jahre
hinweg Anmelder und Leiter von Rudolf-Hess-Gedenkmärschen in eben dieser
Stadt war.

Mit diesem Gesetz war eine Handhabe geschaffen, die Gedenkmärsche seit
dem Jahre 2005 zu verbieten. Beharrlich klagte Jürgen Rieger sich "nach
oben". Das Verwaltungsgericht lehnte die Klage ab.Der Bayerische
Verwaltungsgerichtshof verwarf die Berufung dagegen. Das
Bundesverwaltungsgericht verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde gegen die
Revision. Alle drei Fachgerichte meinten, es sei ein "allgemeines
Gesetz" und daher zulässig.

Eine Kehrtwende machte jetzt das Bundesverfassungsgericht. Aber nur in
der Bewertung des Gesetzes, nicht vom Ergebnis her.

Vom Ergebnis her bleiben Gedenkmärsche für Rudolf Hess oder andere
prominente Vertreter des historisch real existent gewesenen
Nationalsozialismus verboten. Aber das Bundesverfassungsgericht hat
festgestellt, daß es sich durchaus nicht um ein "allgemeines Gesetz"
handelt. Sondern um ein Sondergesetz.

Der Leitsatz der am 4. November ergangenen und heute veröffentlichten
Entscheidung lautet:

(Zitat Beginn)
§ 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1
und 2 GG vereinbar. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien
entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische
Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der
als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik
Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der
propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und
Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des
Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent.
(Zitat Ende)

Der Wortlaut des Grundgesetzes ist also nichts wert, wenn es gegen Nazis
geht. Nur allgemeine Gesetze dürften die Meinungsfreiheit einschränken --
außer, wenn es um die Meinungsfreiheit von Nazis geht. Willkür ist
verboten -- außer gegen Nazis. Das ist in kurzen Worten die Quintessenz
der Entscheidung vom 4. November 2009.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Ausnahmezustand in der BRD erklärt.
Früher nannte man es Standrecht oder Kriegsrecht. Aber wir leben ja im
Zeitalter des Euphemismus. (Beschönigende Umschreibung für ein
anstößiges oder unangenehmes Wort.) Heute heißt es nicht mehr
Standrecht. Geschweige denn Kriegsrecht. Heute ist es nur eine "Ausnahme".

Warten wir mal ab, wann die Ausnahme zur Regel wird. Wenn es gegen Nazis
geht. Alles, was gegen Nazis geht, ist gut. Ohne Ausnahme!

Parchim, den 17. November 2009
Christian Worch


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