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Wunsiedel, 4. September 2005

Nachricht von:
Christian Worch

Hamburg, den 5.September 2005


Der Bayerische Rundfunk meldete auf seiner Internetseite, daß rund 100 Anhänger der NPD (*) gestern in Wunsiedel demonstriert haben; es gab als Gegenaktionen Gottesdienste regionaler Kirchen und bürgerlicher Gegendemonstrationen, an denen ungefähr 500 Menschen teilgenommen haben sollen.
(*) Eine Rundmail von Thomas Wulff gibt 150 Teilnehme an.


Eine strategische Bewertung in zwei Teilen.


Teil I: Die Strategie

Bleibt eine groß angelegte Demonstration wie die für den 20. August in Wunsiedel geplant gewesene verboten, bieten sich zwei Reaktionen an, und zwar am besten nicht als „entweder / oder“ sondern als „und“. Zunächst ist es sinnvoll, die Mobilisierungskraft zu verwenden, um an anderen Orten gegen politische Unterdrückung und Versammlungsverbote und für Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Und danach ist es sinnvoll, am Ort des bestandskräftig gebliebenen Verbotes zu einem späteren Termin zu einem anderen Thema zu demonstrieren. Die erste Aktion nutzt das vorhandene Mobilisierungspotential aus (wie es in Berlin, in Peine, in Nürnberg, in Weißensee, im dänischen Kolding und an anderen Orten am 20. August geschehen ist), und die zweite Aktion zeigt den örtlichen Behörden und politischen Machthabern, daß ihre Stadt unabhängig vom Thema nicht „demonstrationsfreie Zone“ ist.

Von daher war die gestern in Wunsiedel gehabte Demonstration durchaus zu begrüßen.

Nicht zu begrüßen war es meiner Ansicht nach, daß als Anmelder und Veranstalter die NPD aufgetreten ist. Nicht, daß ich grundsätzlich etwas gegen NPD-Demonstrationen hätte. Wenn zum gleichen Zeitpunkt parteifreie Demonstrationen zu einem hinreichend interessanten Thema sind, gehe ich nun mal zu einer parteifreien Demonstrations, weil ich selbst parteifrei bin. Aber ich lehne es nicht grundsätzlich ab, an einer NPD-Demonstration teilzunehmen. (So werde ich beispielsweise am 29. Oktober bei der NPD-Demo in Göttingen dabei sein. Das soziale Thema, das da aufgebracht wird, ebenso wie Göttingen als Demonstrationsort finde ich gleichermaßen reizvoll.)

Hier aber wäre mir sinnvoller erschienen, wenn nicht ausgerechnet die NPD als Anmelder und Veranstalter aufgetreten wäre. – Es mag sich jemand denken, daß eine NPD-Demo gerade in Wahlkampfzeiten schwerer zu verbieten ist als eine parteifreie. Das ist natürlich ein Irrtum. Wenn ich in Wunsiedel zu einem beliebigen Zeitpunkt beispielsweise gegen Sozialabbau oder für die Wiedereinführung der D-Mark demonstrieren möchte, kann der Landrat das so oft verbieten, wie er will – das Verfassungsgericht sagt seit dem August 2000 in ununterbrochener Folge immer wieder, daß zunächst einmal grundsätzlich von den Angaben in der Anmeldung auszugehen ist, solange nicht triftige Umstände zur Annahme des Gegenteils zwingen. – Die Frage der Rechtssicherheit einer Demonstration ist schon seit fünf Jahren nicht mehr von Privilegien wie dem Status einer Partei oder den besonderen Umständen einer Wahlkampfzeit abhängig, wie jeder wissen muß, der imstande ist, Verfassungsgerichtsbeschlüsse zu lesen. – Sicher kann es sein, daß nach der Niederlage vom 20. August beziehungsweise den Vorbereitungen für die dann nicht möglich gewesene Demonstration Jürgen Rieger und seine Mitstreiter vom sogenannten „Wunsiedel-Komitee“ personell, mental oder finanziell ausgelaugt waren und sich nicht gleich zwei Wochen später die Mühe der Organsation, Durchsetzung und Leitung einer (wenngleich viel kleineren) Demonstration unterziehen wollten. (Die erfolgreiche Anfechtung des Wunsiedel-Verbots für den 4. September lag allerding in den Händen des in diesem Fall siegreich gebliebenen Rechtsanwalts Jürgen Rieger, so daß das Argument der „Durchsetzung“ im Sinne juristischer Durchsetzung als mögliches Problem entfällt.) So eine Erschlaffung oder Auslagung wäre durchaus verständlich. Denn die Vorbereitung einer Großdemonstrationen kostet unter anderem auch einiges an Geld, und wenn die Demonstration selbst ausfällt, gibt es keine Gegenfinanzierung. Da kann der Verlust leicht mal vierstellig in EURO werden. Ich kenne das sehr gut; ich habe als einer der aktivsten Demonstrationsanmelder solche Verluste häufiger getragen als Jürgen Rieger und sein Stab vom „Wunsiedel-Komitee“.

Trotzdem war die NPD sicherlich nicht die einzige Alternative als Demostrationsanmelder. Mit einigen wenigen Telefonaten hätte sich zweifelsfrei eine andere finden lassen.

Warum hätte man das – meiner Meinung nach – tun sollen?

Um der Gefahr entgegenzuwirken, daß die Meinung sich verbreitet, die NPD wolle Wunsiedel – jetzt im Sinne von künftig hoffentlich wieder möglichen Rudolf-Hess-Demonstrationen – für sich instrumentalisieren. Eine Meinung, die durchaus nicht paranoid sein muß, wenn man sich den Ablauf und die Rednerliste der letztjährigen Wunsiedel-Demonstrationen nähe anschaut oder den Aufbau von Werbständen für den „Deutsche-Stimme-Verlag“ oder – als paralleles Beispiel – die Übernahme der „Schirmherrschaft“ der NPD-Fraktion in Dresden für die Demonstration aus Anlaß des 60. Jahrestages des Terrorbombardements von Dresden.

Insofern war – strategisch gesehen – die Abhaltung einer wenngleich sehr, sehr viel kleineren Demonstration zwei Wochen nach dem 20. August in Wunsiedel richtig, jedoch bei der Auswahl des Anmelders hätte man geschickter vorgehen können, um den bisher breiten Konsens der Wunsiedel-Demonstrationen zu erhalten. Schließlich war Rudolf-Hess-Gedenken schon seit den ersten Aktionen im Jahre 1987 traditionell parteifrei und, und das ist auch heutzutage WEIT MEHR konsensfähig als parteilich geprägte Aktionen. Zumindest so lange, wie die Partei, der Rudolf Hess selbst angehört hat, nicht existieren oder geschweige denn demonstrieren darf. Und das war bekanntlich nicht die NPD..... Die zwar drei Buchstaben ihres Namenskürzels mit dieser anderen, verbotenen Partei teilt, aber ausdrücklich nicht deren Nachfolgerin sein oder in deren Knotinuität stehen möchte.


Teil II – die Mobilisierung:

Bei kleinen Demonstrationen darf man davon ausgehen, daß so gut wie alle Teilnehmer eine starke politische Motivation haben. Bei großen Demonstrationen, wo vor allem auch viele tausend Teilnehmer erwartet werden und diese das subjektive Erfolgserlebnis haben, eine Stadt „gehöre“ ihnen für die Dauer eines Tages, wird das anders sein.

Wir erkennen es bereits an folgendem Umstand: Nach einer meiner Meinung nach zutreffenden Einschätzung des „Aktionsbüros Nord“ demonstrierten am 20. August ungefähr 2.300 Menschen gegen dieses Verbot beziehungsweise für die Abschaffung von § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch und für Meinungsfreiheit.

Letztes Jahr waren in Wunsiedel nach Polizeiangaben 4.800 Teilnehmer, nach Angaben der Veranstalter rund 7.000 Teilnehmer. Selbst wenn ich die niedrigere offizielle Zahl der Polizei zugrunde lege, wären das noch immerhin doppelt soviel gewesen wie die 2.300 Protestler in Berlin, Peine, Nürnberg und so weiter und so fort. – Und weder Freund noch Feind hat daran gezweifelt, daß die Zahl der Teilnehmer an einer Rudolf-Hess-Demonstration dieses Jahr größer sein würde als im letzten Jahr, wenn sie denn nicht verboten geblieben wäre.

Wenn zwei Wochen später demgegenüber gerade mal – nach Angaben des BR – ca. 100 Personen in Wunsiedel demonstrieren, deutet das darauf hin, daß die ganz überwiegende Masse der mobilisierbaren Demonstranten eben KEIN besonders stark ausgeprägtes politisches Bewußtsein hat. Daß sie die (von der Identität des Veranstalters abgesehen) Notwendigkeit des Protestes vor Ort nicht richtig erfassen oder ihnen das weniger wichtig ist als das angestrebte Gemeinschaftserlebnis, das Gefühl subjektiver Stärke, das „Wir-empfinden“ eines Massenaufmarsches von 5.000, 7.000 oder möglicherweise gar 10.000 Nationalisten.

Der strategischen Flexibilität von Anführern im Sinne des politischen Lagers oder der Szene steht offenbar keine annähernd ähnliche Motivation und damit Mobilisierungskraft der Basis gegenüber. Oder diese Motivation und damit Mobilisierungskraft ist so punktuell, daß sie sich zwei Wochen nach der Mobilisierung von 2.300 Aktivisten nicht noch einmal wiederholen läßt; zumal nicht an einem Sonntag und zumal nicht, wenn es am Sonnabend davor länger geplante Demonstrationen in drei Orten mit zusammen wohl bei vier- bis fünfhundert Teilnehmern gegeben hat.

Die Erfahrung als solche ist übrigens auch nicht neu.

Sie erinnert an die Ereignisse nach dem bestandskräftig gebliebenen Verbot der Halbe-Demonstration im Jahre 2002, als wenige Wochen später zum Protest dagegen in der Halbe nahegelegenen Ortschaft Teupitz und dann wieder eine Woche danach in der Landeshauptstadt Potsdam protestiert wurde. Für die Repressions-Behörden ist das zweifellos lästig, weil ihr Aufwand auch für kleine Demonstrationen nicht so viel geringer ist als der für größere Demonstrationen, aber die politischen und propagandistischen Auswirkungen ebenso wie die innere Akzeptanz des politischen Lagers beziehungsweise der Szene sind eher gering.

Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr und damit stärker geworden sind, zeigt sich doch aus solchen Anlässen, daß es sich hauptsächlich um eine Stärke handelt, die zutage tritt, wenn allgemein ein Großereignis erwartet wird, das den Charakter eines „Selbstgängers“ hat, nicht aber um eine ständig reproduzierbare, wiederholbare politische Stärke.

Gerade die, die sich an großen Zahlen berauschen, sollten das nicht aus dem Blick verlieren. Bei Großereignissen gibt es einen Konsens, der über die Zersplitterung der Szene hinausreicht. Dieser Konsens ist angesichts einer zersplitterten Szene aber eben immer nur ein punktueller, anlaßgebezogener; er hat keine über den konkreten Anlaß hinausgehende Ausstrahlungswirkung. Weder durch eine Idee oder Strategie ncoh durch eine Partei oder Organisation noch durch einzelne Personen beziehungsweise kleinere Personengruppen.

Denn sonst wären am 4. September in Wunsiedel nicht 100 bis 150 Teilnehme gewesen, sondern 1.000 oder 1.500, und hätten damit ein machtvolleres Zeichen gesetzt als eine Demonstration so geringer Dimension wie die gehabte. Nur dann hätte man davon ausgehen können, daß die Kalkulation der herrschenden politischen Kaste nebst dem bayerischen Innenminister und dem Wunsiedler Landrat nicht aufgegangen wäre. So aber ist sie das.

Mit besten Grüßen
Christian Worch


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